Die unheimliche Gestalt in der Heide
Einstmals kam ein hallischer Fischer auf seinem Heimwege nach Mitternacht durch die Dölauer Heide. Als ihm seine Tabakspfeife ausgegangen war, lehnte er sich an einen Baum, um sie wieder anzuzünden. Plötzlich erblickte er ganz in der Nähe eine männliche Gestalt, die unter einem Baum saß. Sie war nur mit Hemd, Unterhose und weißer Zipfelmütze bekleidet, und neben ihr lag ein langes Messer. Der Fischer war zu Tode erschrocken und wusste nicht, wie er sich verhalten solle. Er fürchtete, dass die Gestalt jeden Moment aufspringen und mit dem Messer auf ihn losgehen könnte. Aber das tat sie nicht, ja sie schien den Fischer gar nicht zu bemerken, sondern starrte unverwandt auf ihre Hände und bewegte sie, als ob sie sie wasche. Da bemerkte der Fischer, dass die Hände und die Hose der unheimlichen Gestalt ganz blutbesudelt waren. Während er noch überlegte, ob er die Erscheinung ansprechen oder sich heimlich entfernen solle, schlug die Nietlebener Turmuhr die erste Stunde, und im Nu war die Gestalt verschwunden. Als der Fischer am andern Tag erzählte, was ihm nachts in der Heide widerfahren war, sagte man ihm, an der genannten Stelle sei vor Jahren ein Mord begangen worden, der bisher noch nicht gesühnt wurde.
Quelle: Lemmer, Manfred
Der Saalaffe
Sagen aus Halle und Umgebung. Ausgewählt und neu erzählt. - 1. Aufl. - Halle: VEB Postreiter-Verl., 1989